Die Angst der Diktatur vor dem Tanz ist die Angst vor den Konsequenzen der Freiheit – vor einer Freiheit, die sich aus selbstbestimmten Bewegungen entwickelt. Hier wird der Tanz zu einer unkontrollierbaren Form politischen Ausdrucks, der rhythmisch bewegte Körper zum Medium des Protests.
Zwölf parallel projizierte Szenen, zwölf Tänzer:innen, die in starken Kontrast zu der im Hintergrund gradlinig verlaufenden Architektur treten. Auffallend gekleidet stehen sie auf den Dächern Teherans. Leuchtendes Rot vor braun-grauen Schatten.
Die Tänzer:innen handeln nicht isoliert voneinander. Das wird spätestens deutlich, als sich im Hintergrund eines der in der Projektion abgegrenzten Bildfelder, langsam eine weitere Figur schemenhaft vor den Häusern abzeichnet. Eine eindringliche Erinnerung daran, dass wir nicht die einzigen sind, die das Geschehen verfolgen können. Die räumliche Nähe der Tänzer:innen in der rasterhaften Anordnung der Bildflächen sowie ihre seriellen Bewegungen erschweren es, den Blick auf nur eine einzige Person gerichtet zu halten. Mal zähfließend, mal abrupt, sehen wir dabei zu, wie sich vor unseren Augen ein Kollektiv entfaltet.
Die choreografierten Bewegungen, die unter dem diesigen Himmel vollzogen werden, werden zu Bildern, die von Fürsorglichkeit, gesprengten Ketten und einer tiefgreifenden Sehnsucht erzählen. Es sind selbstbestimmte Geschichten ohne gesprochene Worte, kraftvoll selbst in der kleinsten Bewegung. Zwischen den Tänzer:innen öffnet sich ein Raum voll nachdenklicher Momente, der ohne den geringsten Anschein von Melancholie auskommt. Die großen, aber nie gewaltsamen Abläufe, die sich durch die zwölf Szenen ziehen, werden in behutsamer Präzision ausgeführt.
Immer wieder kehren sie im Laufe ihrer Performance zu ihren anfänglichen Haltungen zurück; verorten sich wiederholt in großen, zum Himmel gerichteten Bewegungen auf den Dächern – im Tageslicht sichtbar, nicht versteckt. Wenngleich ihre Gliedmaßen zeitweise in alle Richtungen streben, beinahe so, als hätten sie die Hoffnung, ihre ausreißenden Bewegungen könnten sie mitreißen, bewegen sie sich doch kaum von der Stelle. Wir werden Zeug:innen eines dynamischen Stillstands; sehen sie teils aus weiter Entfernung, über dem Abgrund der Straßen auf einem anderen Dach, teils auffordernd nah. Sie beachten uns nicht – sie bewegen sich hier oben für kein Publikum. Der Rhythmus, den ihre Körper gemeinsam schaffen ist nicht für uns. Es wird deutlich, dass uns hier mehr als eine einfache Zuschauer:innenrolle zugedacht ist.
Mit der Islamischen Revolution 1979 endet im Iran auch eine lange Tradition des Tanzes. Aus dem öffentlichen Leben verbannt, bleibt er bis heute verboten; ein heimlicher Akt im geschlossenen Raum des Privaten. Im gleichen Jahrzehnt erlebt die Kunstwelt, besonders in New York, eine gegengleiche Bewegung. Künstler:innen drängen aus den tradierten Institutionen in den öffentlichen Raum. So auch Trisha Brown, die 1971 die Dächer New Yorks erklimmt, um Roof Piece aufzuführen. Auch im Zuge der Islamischen Revolution steigen in Teheran Frauen auf die Dächer, um zu protestieren. Bilder die erneut um die Welt gehen, als auch nach der iranischen Präsidentschaftswahl 2009 das Dach wieder zu einem politischen Ort wird, an dem Privates und Öffentliches aufeinanderprallen.
Es ist in diesem zeitlichen Kontext, in dem Anahita Razmi schließlich 2011 ihr Roof Piece Tehran in der iranischen Hauptstadt verortet; und so in der Komposition der Szenen immer wieder subtil daran erinnert, in welcher Ambivalenz hier gehandelt wird, wenn die Tänzer:innen ihre Arme weit von sich strecken, selbstsicher, selbst-sichtbar.
Wie viele ihrer Arbeiten spielt auch diese mit den Qualitäten von Kontext-, Ort- und Zeitverschiebungen. Razmi macht mit ihrer Referenz auf Brown das Dach zum wiederentdeckten Schauplatz künstlerisch, politischen Ausdrucks. Es seien nie Arbeiten die über den Iran sprechen wollen, sondern stets im Bezug zu einem Ort und seinen Menschen – Arbeiten die Momente der Reflexion erzeugen, erklärt Razmi. Auch in diesem Werk ist das Risiko, in das sich die Tänzer:innen begeben, ein andauernder Tenor, den uns die Künstlerin nicht vergessen lässt, ohne es dabei zum zentralen Aspekt ihrer Arbeit zu machen.
Nach einer letzten Sequenz sinken die Tänzer:innen mit über dem Kopf verschränkten Händen allmählich zu Boden und verschwinden aus dem Sichtfeld. Bei Trisha Brown endet die Aufnahme mit der Choreographin selbst, die sich langsam aus dem Bildausschnitt entfernt – für die Tänzer:innen in Teheran gibt es kein Sichentfernen. Das Bild, das zurückbleibt – ein urbanes Meer aus flachen Dächern und Satellitenantennen – mag der eingangsbeschriebenen Szenerie visuell ähneln, doch scheint sich eines deutlich in die Landschaft eingeschrieben zu haben: eine unversiegbare Einheit. Eine Einheit die, geboren aus dem inneren Rhythmus sich kollektiv widersetzender Körper, zum fundamentalen Ausdruck einer nach Freiheit strebenden Gesellschaft wird.
Im original Erschienen als ‘Valley of Unity / Anahita Razmi - Roof Piece Tehran (2011/2022)’. In Valleys of the Simorgh - A Transhistorical Quest for Equality and Democracy, edited by Anita Hosseini, 54–61. Vienna: University of Applied Arts Vienna, 2024. ISBN: 978-3-903525-08-5.